Lioba Sombetzki – Seminar Film und Frauenrechte in Afghanistan und Iran

Ein Beitrag von Lioba Sombetzki im Rahmen des Seminars „Film und Frauenrechte in Afghanistan und Iran“.

A Sister’s Tale

Über sieben Jahre begleitet die Regisseurin ihre Schwester. In der Ehe gefangen, mit einem abwesenden und uninteressierten Ehemann, verliert sich Nasreen in depressiven Episoden und auch sich selbst. Ihr Ausweg: singen. Sie priorisiert die Zeit mit sich allein, singt vor dem Handy, übt und übt, nimmt Gesangskurse. Während sie singt, findet sie auch in ihrer Beziehung ihre Stimme wieder. Sie steht für sich ein und trotz großer Bedenken seitens ihrer Familie setzt sie ihre Wünsche und Bedürfnisse, die sie (um eine gesellschaftlich gesehen „gute“ Frau und Mutter zu sein) immer in den Hintergrund gerückt hatte, nun in das Zentrum ihres Lebens. Was ihr dabei Kraft gibt, ist die Unterstützung ihrer filmenden Schwester. Sie übernimmt Sorgeaufgaben, kümmert sich um die Kinder, begleitet ihre Schwester durch Tränen und Freude. Sie begleitet sie zum Tätowierer, wo sie beginnt ihren Körper wieder anzueignen und durch den Alltag. Sichtbar wird ein feines Geflecht aus widerständigen Momenten, die zusammen das Netz bilden, in das sich Nasreen fallen lassen kann, als sie die Chance bekommt, in einem Studio einen Song aufzunehmen. Der innere Wunsch, nein, das Grundrecht, ihre Stimme klingen zu lassen, im Gesang zu trauern, zu jubeln, erotisch, selbstbewusst und zärtlich, zerbrechlich zu sein, setzt sich über alle anderen Grenzen in Nasreens Leben hinweg. Ich bleibe schweigend auf dem Kinosessel zurück und bin berührt von der schwesterlichen Solidarität, Unterstützung und Sorge.

Stein der Geduld

Sie spricht und spricht und spricht. Wie ein Stein, ein schweres Mineral, liegt er auf der dünnen Matratze auf dem Boden. Schwer, unbeweglich. Unfähig, sich zu bewegen, sich zu wehren, bedrohlich zu sein oder gefährlich. Ihre Worte tropfen durch sein Ohr. Ob sie das Bewusstsein erreichen, ist irrelevant. Denn mit jedem Wort, mit jedem Satz löst sie sich mehr. Bewegt sich freier, denkt freier und erobert sich autonom über ihr Narrativ zurück. Jedes Wort sickert in seinen bewegungslosen Körper. Derjenige, der die Macht hatte, ausgeübt hat und davon profitiert hat, ist nun durch eine Verletzung seines Körpers nicht mehr dazu in der Lage. Aus einem Gebet wird eine Beichte. Ein Wort nach dem anderen erzählt von ihrer Sicht auf die Welt. Von ihren Träumen, Bedürfnissen, Ängsten, Sorgen und Geheimnissen. Worte, die nie ausgesprochen worden wären, dürfen jetzt Realität werden. Dieser kraftvolle transformative Akt, dieser Monolog, hat sich tief in mich eingebrannt.

Sprache kann magisch sein. Nicht in einem übernatürlichen Sinn, sondern in einem sehr realen. Sätze können Zaubersprüche werden, die die Realität verändern. „Ich trenne mich von dir“ oder „Ich kündige“, diese Sätze formen sich über Monate im Inneren, nehmen unterschiedliche Formen und Farben an, bevor sie ausgesprochen werden. Und auch das Aussprechen selbst kann unmöglich sein. Ein „Es tut mir leid“ oder ein „Ich liebe dich“ bleibt nicht selten wortwörtlich im Halse stecken. Die Worte liegen auf der Zunge, aber finden ihren Weg nicht raus. Sprache verändert die Realität, und es ist sichtbar und spürbar in dieser Literaturverfilmung. Dabei ist die Gewalt und Brutalität der Lebenswelt der Protagonistin immer sichtbar, hörbar, die Granateinschläge donnern durch die Lautsprecher und rütteln am Publikum.

Mein Unverständnis der Protagonistin gegenüber (warum bringt sie sich denn nicht in Sicherheit? Na los!) weicht tiefer Bewunderung. Sie übernimmt die Sprachführung in ihrem Leben. Sie flößt ihre Worte in den unbewussten Körper ihres Mannes und Vergewaltigers und ihre Worte lassen mich auch jetzt noch nicht los. Am Ende der Fabel zerbrach der Stein unter dem Kummer. Das Sprechen wird zum kathartischen Akt, der wichtiger ist als ihre Sicherheit. Es ist wichtiger, die Freiheit des freien Sprechens zu spüren, weiterzureden und die Worte aus ihr herausfließen zu lassen, als in Sicherheit zu sein. Gerade das macht so deutlich, wie einschneidend das Sprachverbot von Frauen in Afghanistan ist. Die Größte Gefahr für das Patriarchat ist das Wort der Frau. Und noch gefährlicher, das gemeinsam gesprochene Wort unter Frauen von Solidarität und Liebe. Gerade deshalb ist das sich verbünden unter Frauen und das gemeinsame Gespräch eine der wichtigsten Waffen im Kampf gegen patriarchale Unterdrückung und Gewalt.

Tatami

Die Matte ist weich. Reisstroh, geflochten, zum Draufstehen, Drauffallen, Draufverlieren. Man könnte es auch einfach lassen. Nicht kämpfen. Sich hinlegen. Atmen. Aber es gibt keine neutralen Matten.

Der Film Tatami zeigt, wie laut ein Körper werden kann, ohne zu sprechen. Wie der Versuch, einfach nur anzutreten, plötzlich ein ganzer Aufstand ist. Und wie eine Frau, die nur Judo machen will, zur politischen Gefahr wird.

Tatami. Ein Ort, auf dem niemand sprechen muss, weil der Körper längst alles sagt. Tatami ist nicht nur ein Film über Judo. Es ist ein Film über eine Frau, die nicht kämpfen darf. Nicht aus Schwäche, sondern weil das Regime, das ihr Land ist, ihr ihren Körper abspricht. Ihre Stimme. Ihre Entscheidung. Die Matte wird zur Bühne. Und der Körper zur Projektionsfläche von allem, was sich sonst nicht sagen lässt. Heimat, Macht, Moral, Männlichkeit. Vor allem Männlichkeit. Wenn Männer sich bewegen, ist das Sport. Wenn Frauen es tun, ist es Protest.

Auf der Matte liegt ein anderer Körper – die Gegnerin, das Symbol. Es geht längst nicht mehr um den Griff, den Wurf, die Technik. Es geht darum, wem sie gehört. Der Kampf beginnt, bevor die Matte betreten wird. Vielleicht sogar bevor der Trainingsanzug angezogen wird. Vielleicht beginnt er in dem Moment, in dem sie lernt, ihre Bewegungen zu kontrollieren, ihre Kraft zu dosieren, sich zu verteidigen. In dem Moment, in dem der Körper lernt, sich zu fühlen.

Die Kamera bleibt dicht an ihr. Und während draußen Politik gemacht wird, bleibt auch Innen jede Geste politisch. Die Weigerung, aufzugeben. Die Entscheidung, zu kämpfen. Oder eben nicht.

Der Körper wird zur Bühne. Und zur Waffe. Nicht, weil er angreift, sondern weil er spricht. Weil er sich nicht mehr zurückhält. Nicht mehr zur Verfügung steht. Er macht sichtbar, was sonst im Dunkeln bleibt: Macht schreibt sich in uns ein. In Schultern, die nicht entspannen. In Hände, die nicht mehr zupacken dürfen. In Knie, die wissen, wie man fällt.

Dieser Film tut weh. Weil er nichts verspricht. Keine Gerechtigkeit. Keine Erlösung. Aber er zeigt, was es bedeutet, sich den eigenen Körper zurückzuerobern. Sich nicht mehr benutzen zu lassen. Nicht als Zeichen, nicht als Flagge, nicht als Stimme einer Nation. Sondern nur als das, was er ist: ein Körper. Ein eigener. Und vielleicht ist das das Radikalste, was eine Frau in dieser Welt tun kann: ihren Körper behalten. Ihn nicht hergeben. Nicht für Männer, nicht für Märtyrertum, nicht für Medaillen.

Dieser Film ist ein Aufschrei. Kein Schrei, der die Scheiben zerreißt. Eher einer, der die Luft verändert. Die Art, wie man sitzt. Wie man schaut. Wie man fragt: Wem gehört eigentlich mein Körper?

Die Antwort bleibt offen. Aber vielleicht liegt sie irgendwo dazwischen. Zwischen einem Schritt zurück und zwei nach vorn. Zwischen einem Griff, der zu lange hält, und einem Blick, der alles sagt. Zwischen Schweigen und Weitermachen. Zwischen den Fasern der Matte.

(Dis)Possesion

Ich bin besessen.
Ich glaub ich bin besessen vom Patriarchat. Es sitzt auf mir mit rauen Händen schnürt es mir die Kehle zu. Es hat haarige Arme und lange Zehennägel. Es atmet mir faulig ins Gesicht. Es sitzt auf meiner Brust. Langsam steuert es meine Gabel. Sein Blick ist mein Blick auf mich. Seine Gedanken werden zu meinen Gedanken.
Es verfolgt mich. Im Zug sitzt es neben mir, auf dem Weg nach Hause lauert es unter den Steinen des Gehwegs.
Ich lese Bücher, überall taucht es auf. In jeder Zeile in jedem Wort.

Es will mich als seinen Besitz.
Der Apfel gehört dem Bauern so wie das Kind dem Manne,
ich bin der Apfelbaum.
Will mich besitzen. Meine Fähigkeit Leben zu produzieren.
Es ordnet mir einen Platz zu. Es schiebt mich an den Ort, der mir zusteht.
Es gräbt seine Nägel unter meine Haut und es wälzt über jedes Wort das ich sage.
Mir wird schlecht.

Die Frauen in meinem Umfeld leiden unter ihren Ehemännern.
Leiden in ihren Kleinfamilien und der Belastung der Care-Arbeit.
Unter den Kindern, die zart sind und weich aber
unerbittlich. Unter Schlafmangel und Gaslighting.
Sie zerbrechen an ihren eigenen Ansprüchen.

Manche befreien sich von ihren schlagenden Männern,
von ihren Vergewaltigern und potentiellen Mördern.
Und bleiben hängen im Netz aus Jugendamt, Familiengericht,
Sozialhilfe und Sprachkursen.

Jeden Tag im Kleinen und im Großen drängt es sich mir auf. Es steckt seine Tentakel in meinen Rachen, es beschwert meine Augenlider, es drückt meine Arme herunter. Es ist in dem Gespräch über Diät und in meiner Hilflosigkeit all meinen Freundinnen gegenüber, die ihr Essen nicht genießen weil sie dünner werden wollen. Es ist in jedem Femizid, der keine Beachtung findet. Es ist in der strukturellen und systematischen Isolation von Frauen. In dem Sprachverbot zwischen Frauen in Afghanistan.

Ich kann nicht mehr darüber weinen. Im Seminar über Frauenrechte im Iran ist eine Iranische Geflüchtete und erzählt von ihrer Folter und der Zeit im Gefängnis. Im Seminar zu Martha Gornicka performen ukrainische Frauen zu den Kriegsverbrechen und Vergewaltigungen, die an ihnen begangen wurden. Asma zieht ihren Sohn alleine groß, ihre Familie in Gaza fürchtet um ihr Leben. Asia hat drei Kinder zwischen eins und fünf und ihre einzige Perspektive ist ihr Partner im Gefängnis.

Ich überlege mir meinen Uterus entfernen zu lassen.
Ich will keine Kinder.
Ich will selbst über mein Leben entscheiden.
Ich will Männer in meinem Leben dezentrieren.
Ich will keine Fürsorge mehr leisten für Männer.
Ich will kein Essen mehr kochen, keine Tassen mehr hinterhertragen.
Ich bin der Apfelbaum.

Wie kann ich diesen Dämon austreiben. Wie kann ich mich selbst wieder aneignen. Wie kann irgendjemand das ertragen.
Ich spreche in Zungen, meine Arme bewegen sich abstrakt. Ich rolle mit den Augen und spucke vor Wut. Ich beschwöre Göttinnen, ich rufe in die Vergangenheit. Ich drehe mich immer schneller im Kreis, ich kratze an den Türen und schlage mit den Fäusten gegen die Wände.

Es ist das miteinander sprechen. Das lesen. Das gemeinsame Zeit verbringen. Das sich informieren. Das auf die Straße gehen. Es ist im Genuss von Essen. Es ist im sich tätowieren. Es ist im Sex mit einer Frau. Das fühlt sich nach glücklichen Bauch-röllchen im Sommer an mit Schweißperlen an den Härchen und einem Eis. Nach einem aus dem Wasser steigen und wieder das eigene Gewicht spüren. Nach einem kleinen Nicken, einer kleinen Geste. Es fühlt sich an nach Füßen vor dem blauen Himmel und nach Kraft in den Händen. Und nach singen.