Heute haben wir den Spielfilm “Das Mädchen Wadjda” der saudi-arabischen Regisseurin Haifaa Al Mansour im Endstation Kino gezeigt. Er handelt von der 11-jährigen Wadjda, die sich nichts mehr wünscht, als ein Fahrrad zu besitzen und dieses Ziel gegen alle Widerstände verfolgt. Der Film ist 2012 erschienen und vielfach ausgezeichnet worden. Es handelte sich um den ersten abendfüllenden Film unter saudi-arabischer Regie überhaupt. Der Spiegel schrieb über den Film: „‚Das Mädchen Wadjda‘ ist voller alltäglicher Beobachtungen, die einen hermetisch abgeriegelten Kosmos erfahrbar machen. Es ist diese Binnenperspektive, die den Film so spannend macht. Er biedert sich nicht beim Westen an und vermeidet Entrüstungsgesten. Mansur zeigt einfach, was es bedeutet, als Frau in Saudi-Arabien zu leben.“
Wie steht es um die Situation der Frauenrechte in Saudi-Arabien heute, 10 Jahre nach der Veröffentlichung des Films?
Ein Beitrag von Julia Machtenberg
Generell lässt sich festhalten, dass die Rechte der Frauen in Saudi-Arabien eingeschränkt sind. Laut dem Global Gender Gap Report aus dem Jahr 2018 rangiert das Land auf Platz 141 von 149 wenn es um die Gleichstellung der Geschlechter geht.1 Allerdings ließen sich insbesondere in den vergangenen 5 Jahren unter der gesellschaftlichen und ökonomischen Reformstrategie, der Vision 2030, des Kronprinzen Mohammed bin Salman auch einige Reformen hinsichtlich der gesellschaftlichen Position von Frauen beobachten.2
So leitete Mohammed bin Salman im März 2018 das potenzielle Ende des Verhüllungsgesetz für Frauen ein. Die Scharia sehe lediglich anständige und respektvolle Kleidung vor. Die Religionspolizei verlor die Befugnisse zur Durchsetzung ihrer Vorstellungen hinsichtlich solcher Kleidung.3 Zudem wurde das Frauenfahrverbot im Jahr 2018 abgeschafft, sodass nun auch Frauen ihren Führerschein machen und Auto fahren können.4 Seit Ende 2019 wurde die bisherige Geschlechtertrennung in der Öffentlichkeit aufgehoben, was auch zugunsten der Erwerbsquote Saudi-Arabischer Frauen kam, sodass deren Erwerbsquote in 2020 33% betrug – dies ist ein Anstieg von 64% innerhalb von zwei Jahren.5
Bis 2019 galt das Vormundschaftssystem in seiner vollen Stärke. Dieses beinhaltet, dass einheimische Frauen einer gesetzlichen männlichen Vormundschaft unterliegen – generell war dieser Vormund bis zur Ehe der Vater, Bruder oder auch Onkel, gefolgt vom Ehemann. Frauen konnten sich zwar vor Gericht von dieser Vormundschaft entbinden lassen, mussten jedoch nachweisen, dass ihr Vormund sie misshandelt, vergewaltig, gequält hat oder zu Dingen zwang, die nicht mit dem Islam vereinbar sind (wie Prostitution).6
Seit August 2019 ist es nun so, dass Frauen ohne ihren Vormund einbeziehen zu müssen, Reisepässe beantragen und ins Ausland reisen können sowie Behörden aufsuchen können, um die Geburt eines Kindes, eine Hochzeit, oder eine Scheidung zu melden. Ebenfalls können sie nun die Vormundschaft für ein minderjähriges Kind übernehmen und selbstständig ein Studium oder eine Erwerbstätigkeit aufgreifen.7 Allerdings stellt Amnesty fest, dass auch das abgeschwächte Vormundschaftssystem häusliche, physische, und sexualisierte Gewalt an Frauen befähigt.8
Des Weiteren beobachtet Amnesty International, dass, einhergehend mit der Reformpolitik des gegenwärtigen Kronprinzen, die Verfolgung von friedlichen Menschenrechtsverteidiger*innen, Journalist*innen, Akademiker*innen und Frauenrechtsaktivist*innen zunimmt. So werden mithilfe von Antiterrorgesetzen und Gesetzen zur Internetkriminalität friedliche Aktivist*innen, die auf Menschenrechtsverletzungen aufmerksam gemacht haben und aufmerksam machen, zunehmend unterdrückt.9
In diesem Zusammenhang wurden im Jahr 2018 mind. 11 bekannte Frauenrechtlerinnen festgenommen.10 Nach ihrer Festnahme begann die Regierung eine Verleumdungskampagne, um die Frauen als Verräterinnen darzustellen11. Unter anderem hatten sich diese Frauen für das Ende der männlichen Vormundschaft und des Frauenfahrverbots eingesetzt, bevor dieses in Kraft trat. Ihre Anklagen und Verurteilungen wurden trotz der Gesetzesänderung nicht fallengelassen. 12
Oftmals verstoßen die Haftbedingungen dieser Frauen gegen grundlegende Menschenrechte. Unter anderem wurden ihnen der Kontakt zur Außenwelt abgeschnitten; Nassima al-Sada wurde in Einzelhaft verlegt, Loujain al-Hathloul erlitt Folter (die Stromschläge, Peitschenhiebe und sexuellen Missbrauch beinhaltete). Einige der Aktivistinnen, wie Iman al-Nafjan und Aziza al-Youssef, erlangten, auch dank des Einsatzes von Amnesty International, zunächst ihre Freiheit wieder, wenn auch die Anklagen gegen sie nicht fallengelassen wurden.
Laut Amnesty setzen sich die Frauenrechtlerinnen seit vielen Jahren für die Aufhebung des Frauenfahrverbots sowie das Ende der männlichen Vormundschaft ein. Vor diesem Hintergrund wird „Ihnen ‘verdächtiger Kontakt mit ausländischen Einrichtungen’, ‘Rekrutierung von Personen in sensiblen Regierungspositionen’ und die ‘finanzielle Unterstützung von feindlichen Einrichtungen im Ausland, mit dem Ziel, die Sicherheit und Stabilität im Königreich zu untergraben und die Sozialstruktur des Landes zu stören’, vorgeworfen.“ 13 Diese Vorwürfe wurden auch mit der Abschaffung des Frauenfahrverbots und der Abschwächung des Vormundschaftssystems nicht fallengelassen.14
Amnesty hält fest, dass „Die Kriminalisierung der Frauenrechtlerinnen […] bezeichnend [ist] für die zunehmende Verfolgung von Menschenrechtsverteidiger_innen in Saudi-Arabien und die andauernden Einschränkung der Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit.“15
Im Rahmen einer Urgent Action / Eilaktion für diese Aktivisti*innen konnte Amnesty rund 50.000 Appelle im Namen der inhaftierten Menschenrechtsverteidiger*innen einsenden.16
Zuletzt sollte nicht unerwähnt bleiben, dass Saudi-Arabien zu den Ländern mit den meisten Hinrichtungen weltweit zählt. Amnesty beobachtet, dass dutzende Menschen jedes Jahr hingerichtet werden, oftmals durch öffentliche Enthauptungen. Erst im März dieses Jahres hat Saudi-Arabien an einem einzigen Tag 81 Menschen bei einer Massenhinrichtung getötet. Diese Tat signalisiert einen erschreckenden Anstieg bei der Vollstreckung von Todesurteilen. Die Verbrechen, aufgrund die Beschuldigten zu Tode verurteilt worden, beinhielten laut Amnesty die „Mitgliedschaft bei Terrororganisationen, Mord, bewaffneter Raub und Waffenschmuggel. Einige der Hingerichteten waren auch wegen ‘Störung des sozialen Gefüges und des nationalen Zusammenhalts’ oder ‘Teilnahme an und Anstiftung zu Sitzstreiks und Protesten’ schuldig gesprochen worden – also wegen Handlungen, die durch die Rechte auf freie Meinungsäußerung, friedliche Versammlung und Vereinigung geschützt sind.“17
Dementsprechend lässt sich festhalten, dass sich trotz der Reformpolitik der Vision 2030 und des damit einhergehenden, angestrebten internationalen Image-Wechsels zu einem „neuen und moderaten saudischen Staat“ vielerlei Verletzungen von Menschenrechten sowie fortbestehende Einschränkungen von Frauenrechten beobachten lassen. 18
Quellenverzeichnis:
1 World Economic Forum (Hrsg.): The Global Gender Gap Report 2016, S. 306–307, weforum.org. Letzter Zugriff 08.04.22.
2„Mohammed bin Salman.“ Wikipedia. Die freie Enzyklopädie, https://de.wikipedia.org/wiki/Mohammed_bin_Salman. Letzter Zugriff 03.04.22.
3 „Mohammed bin Salman. Frauenrechte.“ Wikipedia. Die freie Enzyklopädie. https://de.wikipedia.org/wiki/Mohammed_bin_Salman#Frauenrechte Letzter Zugriff 03.04.22.
4 Ibid.
5 Ibid.
6 Ibid.
7 https://de.wikipedia.org/wiki/Mohammed_bin_Salman#Frauenrechte Letzter Zugriff 03.04.22.
8 „MENA: Gender-based Violence Continues to Devastate Lives.” Amnesty International, 08.03.21, https://www.amnesty.org/en/latest/news/2021/03/mena-gender-based-violence-continues-to-devastate-lives-of-women-across-region-2/ Letzter Zugriff 03.04.22.
9 „10 Dinge, die du über Menschenrechte in Saudi-Arabien wissen solltest.“ Amnesty International, 30.07.19, https://www.amnesty.de/informieren/aktuell/saudi-arabien-10-dinge-die-du-ueber-menschenrechte-saudi-arabien-wissen Letzter Zugriff 03.04.22.
10 Mutige Menschenrechtsverteidigerinnen freilassen!“ Amnesty International, https://www.amnesty.de/mitmachen/petition/saudi-arabien-mutige-menschenrechtsverteidigerinnen-freilassen-2018-08-31 Letzter Zugriff 03.04.22.
11 „10 Dinge, die du über Menschenrechte in Saudi-Arabien wissen solltest.“ Amnesty International, 30.07.19,
https://www.amnesty.de/informieren/aktuell/saudi-arabien-10-dinge-die-du-ueber-menschenrechte-saudi-arabien-wissen Letzter Zugriff 03.04.22
12„Mutige Menschenrechtsverteidigerinnen freilassen!“ Amnesty International, https://www.amnesty.de/mitmachen/petition/saudi-arabien-mutige-menschenrechtsverteidigerinnen-freilassen-2018-08-31 Letzter Zugriff 03.04.22.
13 Ibid.
15Mutige Menschenrechtsverteidigerinnen freilassen!“ Amnesty International, https://www.amnesty.de/mitmachen/petition/saudi-arabien-mutige-menschenrechtsverteidigerinnen-freilassen-2018-08-31 Letzter Zugriff 03.04.22.
16 Ibid.
17 “Saudi-Arabien: 81 Menschen an nur einem Tag hingerichtet.“ Amnesty International, 15.03.22. https://www.amnesty.de/informieren/aktuell/saudi-arabien-81-menschen-an-einem-tag-hingerichtet Letzter Zugriff 03.04.22
18 Kosyfologou, Aliki. „Die Situation der Frauen in Saudi-Arabien. Wandel, Tradition, Kontroversen und politische Unterdrückung.“ Rosa Luxemburg Stiftung, 05.11.2021. https://www.rosalux.de/news/id/45316/die-situation-der-frauen-in-saudi-arabien. Letzter Zugriff: 03.04.2022.